Nach einem langen Tag in der Schule haste ich abends um 18:00 durch den Bahnhof von Luzern. Ich erwischte am Schulort einen Zug früher als gedacht und freue mich, dass es somit gerade noch reichen wird, um mit meiner Familie zu essen, bevor später nochmals Besuch kommt. Ich bin hundemüde vom Tag und gedanklich bereits bei den 15 Minuten Radfahren, die nun noch vor mir liegen und mir den Kopf lüften werden. 15 Minuten, die reichen müssen, um den Fokus vom Schreiben eines Beratungskonzepts wieder auf die Hausaufgaben der Kinder, liegengebliebene Wäsche und einen potenziellen Zickenkrieg zu schwenken. Während ich dem Gleis entlang gehe, fische ich den Fahrradschlüssel aus meinem Rucksack und ziehe mir mein Stirnband an (Frühling, wo bleibst du?).
am Bahnhof
Im Flow mit meinen Zug-Gspändli laufe ich die Treppe runter in die Unterführung und mein Blick schweift unbewusst über all die hippen Menschen, die um mich herum mit mir in ihren Feierabend hasten. Ich atme bewusst den bezeichnenden Duft vom Bahnhof ein und tauche ab in diese rastlose Bahnhof-Feierabend-Atmosphäre. Lasse mich für einige Meter mit dem Strom in Richtung Ausgang treiben. Und fühle mich dabei einen kurzen Moment ganz zugehörig zu einer Welt, die mir in meinem Alltag oft fern ist. Der Welt der Arbeit. Der Welt des Feierabends. Innerlich passe ich grad voll rein in diese Menge. Und fühle mich gut dabei.
Es überkommt mich eine Dankbarkeit, dass ich scheinbar gerade alles haben und leben kann. Ich darf mich weiterbilden. Gestalten. Und somit zu dieser geschäftigen Bahnhofscrowd dazu gehören.
Gleichzeitig kann ich in 15 Minuten meine Familie in die Arme schliessen.
Für einen kleinen Moment geht gerade alles wunderbar auf. Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ich habe alles von allem und fühle mich dabei frei. Und glücklich.
Alles
Und doch ist es gerade dieses „alles“, das manchmal auch einfach unheimlich viel ist. Zu viel.
Zu viel von allem.
Im Kopf. Im Herz. Und in meinen Kapazitäten.
Ich frage mich innerlich schmunzelnd, weshalb es mir unterbewusst anscheinend erstrebenswert erscheint, zu einer schwitzenden, gestressten durch den Bahnhof hastenden Menge dazu zu gehören? Warum romantisiere ich eine Bahnhof-Unterführung (also ja… nicht die Unterführung an sich – ihr wisst schon…).
Oder die tiefere Frage darunter:
Warum habe ich latent das Gefühl, ich müsse den „5er und s Weggli“ haben, um Erfüllung zu finden, wenn ich mir gleichzeitig eingestehen muss, dass gerade dieses „alles“ es ist, was mich immer wieder über meine Grenzen hinauskatapultiert?
Warum fällt es mir oft so schwer, genügsam zu sein mit dem, was gerade ist. Darf das nicht auch einfach mal genug sein?
Alles hat seine Zeit
Ich freue mich auf eine Zeit, in der ich wieder unabhängiger bin, weil mich meine Kinder nicht mehr so fest brauchen. Wenn mehr Gestaltungsfreiraum kommt und ich so oft durch den Bahnhof hasten kann, wie ich will (irgendwie erscheint mir dies jetzt, wo ich das so schreibe, aber plötzlich nicht mehr wirklich erstrebenswert…;-)).
Aber ich freue mich auch sehr fest darüber, dass ich jetzt noch ganz fest für die Familie da sein darf. Dort, wo ich hineingepflanzt bin. Wurzeln schlagen und Halt geben darf.
In verschiedenen Zusammenhängen wurde ich in letzter Zeit auf den Text aus Prediger 3 aufmerksam.
„Alles hat seine Zeit“ steht dort.
„weinen und lachen, wehklagen und tanzen, Steine werfen und Steine aufsammeln, sich umarmen und sich aus der Umarmung lösen, finden und verlieren, aufbewahren und wegwerfen, zerreissen und zusammennähen, schweigen und reden.“ (Prediger 3, 4-5)
Alles hat seine dafür bestimmte Zeit. Es muss nicht alles auf einmal sein.
Und ja, damit verzichte ich auf Dinge. Auf Ansehen. Auf Geld. Auf Unabhängigkeit. Auf Abwechslung. Auf überall mit dabei sein können.
Auf manches davon verzichte ich bewusst. Auf anders, weil einfach nicht alles nebeneinander geht. Ich kann nicht von allem 100% haben. Irgendwo geht die Rechnung nicht mehr auf. Ich kann nicht zu jeder Zeit alles haben.
Eh nicht.
Ich verzichte sowieso.
Verzicht
Vielleicht würde der sinnvolle Verzicht hierbei anfangen, dass ich auf das „alles auf einmal haben wollen“ verzichten würde.
Und mich selbst damit beschenke, mehr im Moment zu leben. Meine Zeit bewusst mit dem verbringe, was vor mir liegt. Weil ich mich voll einlassen kann auf die Menschen um mich herum. Mich auch mal verschenken kann, weil ich eben gerade nicht durch eine Unterführung hasten muss. Und ich kann mir gut vorstellen, dass ich dabei erkennen würde, dass sich dieser Verzicht in einen Gewinn umwandelt. Dem Gewinn vom bewussten im Moment leben.
Und daraus dürfen dann ja auch wieder Träume entstehen, für Zeiten die noch kommen werden.
Der Autor vom Prediger Buch fasst das ganz gut zusammen:
„Ich bin zu der Erkenntnis gekommen: Das Beste, was der Mensch tun kann, ist, sich zu freuen und sein Leben zu geniessen, solange er es hat.“ (Prediger 3,12).
Sei es in der Bahnhofsunterführung oder beim Wäsche-Berg.