Wir befinden uns in der Karwoche. Vor Ostern. Um mich herum herrscht der normale Alltagswahnsinn.
Ich habe einige Dinge ob. Abgabetermine, die ich einhalten sollte. Ein Referat und Workshop zum Vorbereiten. Zu spät habe ich realisiert, dass ja noch 2 Wochen Ferien vor uns stehen und somit meine freien Vormittage entfallen, an denen ich ungestört arbeiten kann. Auch wenn ich es geniesse, die Familie zuhause zu haben und einen anderen Tagesrhythmus zu leben, sitzen mir nun diverse Deadlines im Nacken. Deadlines, die mir alle durchaus Freude bereiten. Aber die Osterhoffnung vermag sich ihren Weg noch nicht in mein Herz bannen.
Ausserdem wird bei uns gleich nach Ostern die Küche umgebaut und wir müssen deswegen neben der Küche auch das gesamte Wohnzimmer leerräumen. Ihr könnt euch vorstellen, dass ich jetzt eigentlich eben gerade NICHT diesen Text verfassen sollte…
Und doch sind da noch tiefere Gedanken, die innerlich kreisen und mich nicht in Ruhe lassen.
Der Spagat
Mich beschäftigt die grosse Not von anderen Menschen. Der Krieg. Und andere Ungerechtigkeiten. Menschen in meinem persönlichen Umfeld, die gerade grosse Lasten tragen. Meine Deadlines werden zu Peanuts.
Ich fühle mich schlecht, wenn ich einfach so weiterlebe wie bis anhin. Den Spagat mache zwischen zwei Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten. So war ich letzte Woche mit einer Freundin zum Saisonabschuss nochmals Snowboarden. Wir genossen die leeren Pisten und gute Gespräche. Die Kinder waren alle in der Schule und wir feierten unsere Freiheit. Taten uns etwas Gutes. Betrieben Selbstfürsorge.
Am selben Nachmittag besuchte ich zwei Familien aus der Ukraine, die bei uns in der Nähe untergebracht sind. Schaute mit ihnen Fotos von ihrem Leben an. Von dem sie grad gar nicht mehr wissen, was davon noch übrig ist. Unter anderem war da das Bild einer glücklichen Familie. An der Grenze zu Polen. Das letzte Bild, das sie gemeinsam mit dem Mann aufnehmen konnten, bevor die Frauen aus dem Land ausgereist sind. Die Trauer und Not standen greifbar im Raum. Daneben spielten unsere Kinder scheinbar unbeschwert UNO.
Meine Seele ist überfordert und ich bin mir bewusst, dass ich nur bedingt Trost spenden kann. Dass meine Hilfe begrenzt ist.
Denn am Ende des Tages ist ihr Leben nicht mein Leben. Ihre Not ist nicht meine Not.
Oder?
Ostern
Und dann kommt mir plötzlich Ostern in den Sinn. Jesus der auch den Spagat machte. Zwischen einer himmlischen Hoffnung und der irdischen Realität. Und ich stelle mir vor, was wohl wäre, wenn Jesus damals entschieden hätte, dass meine Not nicht seine Not ist. Ich denke an sein Ringen vor seiner Verhaftung im Garten Gethsemane. Seine eigene Verzweiflung war greifbar. Er äusserte sie offen gegenüber seinen Jüngern:
«Meine Seele ist zu Tode betrübt» (Matthäus 26,38).
(Die Jünger quittierten seine Offenheit dann damit, dass sie einschliefen…)
Oder wenn Jesus zu seinem Vater betete:
»Mein Vater, wenn es möglich ist, lass diesen bitteren Kelch an mir vorübergehen!» (Matthäus 26,39)
Jesus hatte selbst zu kämpfen. Er wusste, dass er bald noch viel mehr Leid zu erdulden hätte. Und darin allein gelassen werden würde. Und doch richtete er dabei, inmitten seiner eigenen Not, die Augen auf andere. Heilte sogar während seiner Verhaftung noch einen seiner Angreifer, als diesem ein erboster Jünger ein Ohr abschnitt (und ich bezweifle, dass der Jünger nur auf das Ohr gezielt hatte…).
Selbst inmitten von seinem eigenen Sturm denkte Jesus nicht nur an sich. Und er nimmt die Not anderer auch heute noch persönlich.
Not persönlich nehmen
Dieser Gedanke lässt mich nicht mehr los. Weil er so radikal ist, dass ich ihn kaum zu Ende zu denken wage. Er ist so fernab von Selbstumkreisung. Und ich glaube darin liegt ein tiefes Geheimnis verborgen.
Ich möchte mich entscheiden, Not persönlich zu nehmen.
Hinzuschauen.
Denn, wenn es niemand persönlich nimmt, wenn sich alle abgrenzen und auf sich selbst bedacht sind, ändert sich nichts. Wenn wir die Not zwar als solche sehen, aber nicht als solche behandeln. Wenn wir bei Begegnungen zwar traurig nicken. Die Not jedoch nur über Bilder aus dem Fernseher in unser Haus und unsere Herzen lassen, ja, was dann?
Ich bin dankbar, dass wir Ostern feiern.
Ostern, das Fest, das zeigt, dass Jesus die Not der Welt so persönlich nimmt, dass er dafür sein eigenes Leben hingegeben hat.
Jesus, der in seiner eigenen Not in den Tagen vor dem Karfreitag nie anders reagiert hat, als mit Liebe. Der Rache nicht mit Rache vergolten hat, sondern mit Hingabe.
Ein hoher Anspruch. Einer, der zwar irgendwie von vornhinein zum Scheitern verurteilt ist, aber es gleichzeitig doch wert ist, ihn als Messlatte zu halten.
Damit wir dies können, müssen wir uns selbst Wert geben. Uns selbst regelmässig rausnehmen und für uns auftanken. Unsere Seele muss immer mal wieder zur Ruhe kommen.
Aber ich denke bei all der Selbstfürsorge dürfen wir nicht vergessen, dass wir Menschen einander brauchen. Dass wir zur Gemeinschaft geschaffen sind. Einer Gemeinschaft die trägt. Die aushält. Die einen Unterschied macht. Und das kann nur gelingen, wenn wir auch die Not der anderen persönlich nehmen.
So wie Jesus am Karfreitag unsere Not persönlich genommen hat.