Im Mai durfte ich für eine Woche mit einer Freundin nach Portugal zum Surfen – was für ein Geschenk! Surfen ist ein neueres Hobby von mir, das mich mit tiefer Freude erfüllt. Neuer deshalb, weil mir tatsächlich jahrelang Ängste im Weg standen, die mich hinderten, diesen tollen Sport auszuprobieren.
Obwohl ich Surfer schon seit meiner Jugend cool finde und sogar auf meine Liste, wie ich mir meinen Traummann vorstelle, «Surfertyp» geschrieben habe, fehlte mir jahrelang der Mut, mich selbst auf ein Brett zu wagen. Es war ein Hobby, mit welchem ich gerne aus der Ferne liebäugelte. Einerseits war da ein grosser Respekt vor dem Meer und allem, was darin lebt und sich regt (da gibt es viel!!!). Vor meinem inneren Auge trat stets das Worst-Case-Szenario «Hai» auf, sobald ich daran dachte, surfen zu lernen. Und dann ist da die gewaltige Macht des Wassers. Und meine empfindlichen Ohren…
Die innere Mauer
Um ehrlich zu sein, sind das die oberflächlichen Ängste. Diejenigen, die am plausibelsten klingen und die man gegen aussen gut vertreten kann. Dabei noch das eine oder andere verständliche Kopfnicken erntet.
Dahinter jedoch, da liegen noch andere Schichten von Ängsten.
Die Angst zum Beispiel, zu versagen und nicht zu genügen: dass mein Englisch nicht ausreicht, um den Anweisungen des Surflehrers zu folgen. Dass ich schlicht zu alt bin, um surfen zu lernen…
Oder die Angst vor sozialer Bewertung: was, wenn ich nicht in die Gruppe passe? Ich nicht dazugehöre, weil ich nicht so «cool» bin wie die «richtigen» Surfer? Ausserdem betont der enge Neopren nicht grad die Vorzüge von meinem «Mom-Bod»… Die Liste könnte noch um etliche Punkte erweitert werden.
Diese Ängste werden fleissig genährt durch innere Selbstzweifel.
Sie stapeln sich feinsäuberlich auf zu einer Mauer. Und diese Mauer von Ängsten, die steht mir innerlich schlussendlich im Weg.
Wo begleiten mich meine Ängste?
Nun gut, kann man jetzt einwenden: ob ich surfe oder nicht, das hat keinen grossen Einfluss darauf, ob mein Leben glücklich verläuft oder nicht.
Surfen ist ein tolles «nice to have», aber es gehört in die Sparte «Luxusproblem».
Das stimmt. Nur leider machen sich diese Ängste ja nicht nur bei meinem Entscheid, ob ich surfe, breit. Sondern ziemlich flott auch in anderen Lebensbereichen, die einen weit grösseren Einfluss auf meinen gelebten Alltag haben. Sie stellen sich in den Weg bei Freundschaften. In meinen beruflichen Werdegang. Meiner Ehe. Der Erziehung meiner Kinder. You name it.
Sie hindern mich im Kollektiv daran, mutige Entscheide zu treffen und mein Leben aktiv zu gestalten.
Irgendwo habe ich letzthin die Frage gelesen: «was hat dich dein Selbstzweifel schon alles gekostet im Leben?»
Diese Frage birgt das Potenzial, weh zu tun. Aber es lohnt sich, genauer hinzuschauen.
Mir ist eine Geschichte von den Cherokee, einem indigenen Volk aus Nordamerika, in den Sinn gekommen:
„Seit vielen Generationen wird die Geschichte eines alten Indianerhäuptlings überliefert, der sich mit seinen beiden Enkelkindern ans Feuer setzte. Als die Glut die Nachtluft erfüllte, begann der alte Häuptling zu sprechen: „Ich möchte euch eine Geschichte über die beiden Wölfe erzählen. Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind wird im Leben mit diesen beiden Wölfen zu tun haben. Sie werden in eurem Inneren einen Krieg führen. Einer von ihnen ist der gute Wolf und der andere der böse Wolf.
Beunruhigt von dieser Geschichte unterbrach eines seiner Enkelkinder seine Erzählung und fragte: „Aber Grossvater, welcher Wolf gewinnt?“
Langsam antwortete der weise und erfahrene Grossvater: „Das ist eine gute Frage, die du da stellst… derjenige, den du fütterst, ist derjenige, der gewinnen wird.“
Wolffütterung
Wahrscheinlich kommen dir diese beiden «Wölfe» auch bekannt vor, oder?
Füttere ich den «bösen», der Wolf der Angst, dann stehe ich weder auf ein Surfboard, noch treffe ich andere aktive Entscheide für mein Leben.
Füttere ich den «guten», denjenigen der mutig ist und das Leben aktiv in die Hand nimmt, dann kann immer noch einiges schief gehen… Aber ich gestalte bewusst. Ich lebe!
In Geschichten und Blog Artikeln klingt das logisch und plausibel.
Aber WIE um Himmelswillen füttert man diesen «guten» Wolf ganz praktisch?
kein pauschales Rezept
Ein pauschales Rezept gibt es nicht. Sonst würden uns allen ja keine Ängste mehr im Weg stehen. Vielleicht ist dies bereits eine Entlastung: du bist nicht alleine. Wir alle kämpfen den einen oder anderen Kampf.
Trotzdem habe ich einige Hilfen zusammengetragen, die uns dabei unterstützen können:
- mir bewusst zu werden, wo in meinem Leben ich mich von Angst leiten lasse. Gibt es Dinge, die ich nicht tue, weil mich zum Beispiel die Angst vor sozialer Bewertung, Angst vor finanzieller Unsicherheit, Angst vor Krankheit oder die Angst des Versagens hindert? Diese Selbstreflexion hilft, mal genauer bei sich hinzuschauen und zu realisieren, welchen Wolf man überhaupt füttert.
- Ängste sind nicht per se schlecht. Sie dienen auch als Schutz. So zum Beispiel meine Angst vor Haien: ja, es gibt Haie! Und ja, es kann etwas passieren. Surfen ist nicht ungefährlich. Ein gesunder Respekt vor dem Meer ist nicht verkehrt! Es lohnt sich jedoch, die Angst einem Realitätscheck zu unterziehen: welcher Teil der Angst ist gerechtfertigt? So habe ich in meinem Beispiel herausgefunden, dass die Gefahr grösser ist auf einer Kuhwiese von einer Kuh angegriffen zu werden als im Meer von einem Hai. Ein Restrisiko jedoch bleibt. Angst vermittelt mir oft die Illusion, Dinge unter Kontrolle zu haben. Mir persönlich hilft der Gedanke, dass ich diese Kontrolle eh nicht habe. Aber ich kann mein Leben in den Händen von einem Gott wissen, dem ich vertrauen darf.
- Träumen: wie würde mein Leben aussehen, wenn ich diese Ängste besiegen würde? Was würde alles möglich werden?
- Kleine, konkrete Ziele setzen: Was wäre ein kleiner, einfacher Schritt in diese Richtung? Für mich war ein solcher Schritt, mit meiner Familie vor einigen Jahren einen Familensurfkurs zu besuchen. Im Wissen, dass wenn die Surfschule selbst für kleine Kinder die Verantwortung im Wasser übernimmt, es für mich nicht allzu gefährlich werden kann . Für dich beudeutet das vielleicht, in der Pause bei der Arbeit jemandem eine Frage zu stellen. Jemandem zu schreiben, ob sie Lust hat auf einen Kaffee. Eine Einladung anzunehmen. Die Bewerbung abzuschicken…
- Diese rationale Auseinandersetzung rufe ich mir immer wieder in Erinnerung und spreche mir selbst innerlich Mut zu, indem ich mir meinen Gewinn der mutigen Entscheidung vor Augen führe. Für mich sind das oft auch Gebete, in denen ich mich innerlich bewusst Gottes Führung und Fürsorge anvertraue. Oder Bibelverse, mit Zusagen von Gottes Liebe für mich, die ich innerlich zitiere.
auch kein Erfolgsrezept
Nochmals: das ist keine «so gelingt dein Leben – Garantie». Die habe ich nicht. Aber diese kleinen Anregungen zur Wolfsfütterung können helfen, das Selbstvertrauen zu stärken. Dem «guten Wolf» die Möglichkeit zum Wachstum zu geben, weil er genährt wird. Die Mauer der Ängste, die im Weg steht, schichtweise abzubauen.
Selbstverständlich ist dies ein Prozess und geschieht nicht von heute auf Morgen.
Und auch Rückschläge gehören dazu.
So steckten mich die Surflehrer in den vergangenen Ferien nochmals 2 Tage zurück zu den Anfängern, weil ich ihrer Meinung nach nicht richtig auf das Brett aufstand. Das gurkte an. Und kratze bitz an meinem Ego.
Aber weisst du was schön war? Trotz diesem «Rückschlag» stieg der «böse Wolf» nicht in die Kampfarena. Die Mauer der Selbstzweifel zog sich nicht hoch.
Weil der «gute Wolf» mittlerweile gut genährt ist. Das ermöglichte mir, die Woche in vollen Zügen zu geniessen. Freude zu haben. Am Surfen. Am Leben. An der Gemeinschaft.
Und solche Momente wünsche ich dir und mir!
PS: Wenn du merkst, dass dich dieses Thema betrifft, aber du gerade nicht weisst wo ansetzen, dann kann es sich auch lohnen, punktuell mal mit einer Fachperson gemeinsam hinzuschauen. Eine Liste mit Psychosozialen Beraterinnen in der gesamten Deutschschweiz findest du hier.