Wer bist du?

Vor einiger Zeit hatten mein Mann und ich ein pensioniertes Ehepaar bei uns zu Besuch. Wir haben sie länger nicht mehr gesehen und ich kenne sie auch nur flüchtig. Unsere Männer jedoch haben eine Art „Bromance“ und sind ab Minute 0 in engagierte Gespräche vertieft. Der Ehemann erzählt meinem Mann begeistert von all den Projekten, die er nun endlich voller Elan am Umsetzen ist. Während die Männer also im regen Austausch vertieft sind, frage ich die Frau: „und was machst du so während deiner freien Zeit?“

Eigentlich nichts

Sie antwortet mir nach längerem Überlegen: „also eigentlich mache ich gerade nicht so viel. Ich bin froh, wenn ich einfach Zeit habe.“

Es tritt für einen Moment unbeholfene Stille in den Raum. Ich geb’s zu: mit dieser Antwort habe ich nicht gerechnet. Eine Millisekunde bin ich überfordert und stelle in der Nächsten in Frage, ob das überhaupt sein darf.

Nachdem ich mich innerlich wieder gefangen habe (und zum Schluss gekommen bin: ja, das darf sein!), entwickelt sich ein gutes Gespräch, über genau das: wer ist man, wenn man nichts tut? Mir klingt das Gespräch noch lange, nachdem wir uns verabschiedet haben, nach.

Warum, frage ich mich, zielen unsere (meine!) Fragen, gerade beim Small Talk, so oft auf das MACHEN ab und nicht auf das SEIN?

Ich fühle mich gröber ertappt. Denn ja, ich hätte es in der Tat einfacher gefunden, wenn sie mir ein Hobby als Gesprächsthema serviert hätte. Darauf hätten wir uns einige Minuten konzentrieren können und es wäre nicht peinlich still geworden.

Aber – im Gegenzug hätte ich total verpasst, was für einen wertvollen Menschen ich da gegenüber habe. Was für tiefe und wertvolle Gedanken sich in dieser ruhigen Frau verbergen. Ich durfte für mein Leben etwas lernen.

Wer bist du, wenn du nichts tust?

Klaro, eine Tätigkeit verrät auch etwas über eine Person. Aber eben nur einen kleinen Teil.

Ich erinnere mich zurück an die Zeit, in der ich Vollzeit Mama war.

Immer mal wieder gewann ich den Eindruck, dass Menschen nicht mehr daran interessiert schienen, mich als „Janine“ kennen zu lernen. Ich hatte den Stempel „Mama“ auf. War die, mit den vielen kleinen Kindern zuhause – und dem engagierten Mann. Und gut war. Die Schublade war gefüllt.

Ich rang damit, dass ich mir wertlos vorkam. Denn auf der „Tun“-Seite konnte ich gerade nur dreckige Windeln und laute Kinder vorweisen.

Auf der „Sein“-Seite jedoch, da schlummerte viel in mir. Interesse und Austausch sog ich auf, wie ein ausgetrockneter Schwamm.

Und nun bin ich da – trotz dieser Erfahrung – und drücke Menschen Stempel auf. Na Bravo.

Mein Learning

Zum Glück muss es in Beziehungen nie bei einem aufgedrückten und unverifizierten Stempel bleiben. Schliesslich konnte bei dieser Begegnung trotz meiner oberflächlichen Einstiegsfrage ein tiefgründiges Gespräch entstehen.

Und ich darf daraus mitnehmen, mehr Fragen zu stellen, die auf das „Sein“ abzielen. Fragen, die hervorheben, wer jemand ist. Mich für den Menschen hinter der Tätigkeit interessieren. Für das, was sie bewegt und ausmacht. Wenn da ein Hobby dazu gehört: top. Aber ich will lernen, nicht da stehen zu bleiben und mich nicht damit zu begnügen, was jemand tut.

Was für Fragen stellst du den Menschen, denen du begegnest?

Hier findest du mögliche Ideen für solche Fragen:

8 Fragen nach dem Sein.

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